ein (persönlicher) wtp – Jahresrückblick von Mira Gittner

 

… kommt der Jahreswechsel, geht das eine in das andere über. Unvermeidlich. Auch wenn ich einige Momente des letzten Jahres nicht vorbeiziehen lassen möchte, sie umklammern, festhalten möchte.

Und so kommt alle Jahre wieder auch das Altes Jahr – Gedicht von Roland hervorgekrochen. Doch dieses Jahr ist es mehr als nur ein Gedicht, es beinhaltet so viel, das wir letztes Jahr erlebt haben und so möchte ich mit diesem Gedicht einen Rückblick auf das für uns sehr besondere Jahr 2022 werfen.

Also, Zeit für einen Rückblick … schon der zweite dieses Jahr.

Roland Reber, 2010

 

Das Feuerwerk ist schon im Gange,
die Leuchtraketen fliegen hoch, die Frösche knallen,
Sekt bald ausgetrunken,
das alte Jahr, es ist vorbei,
das neue hat sich eingefunden.
Die Menge tanzt, es klingen Stimmungslieder,
doch ich sitze einsam, fast allein,
ich möchte weinen,
möchte denken,
möchte dem alten Jahr
noch eine halbe Stunde schenken.

 

Zeitenwende ist das Wort des Jahres für mich. Denn für uns, das wtp-kollektiv, hat sich die Zeit tatsächlich gewendet. Mehrmals. Mit einem Doppel-Wumms. Zuerst im März, als wir den wtp-Firmensitz vom Bavaria-Filmgelände nach Unterdießen verlegten, so, wie wir es vor 21 Jahren eigentlich mal geplant hatten. Dann im Mai, als Marina Anna Eich sich entschloss, nach 22 Jahren wtp zu verlassen, um ihre ganz eigenen Wege zu gehen – rückblickend war das noch kein Wumms, schade ja, aber auch richtig, denn das wtp-kollektiv ist dynamisch, manche sind schon seit 38 Jahren dabei und bleiben, wie Ute, manche Wege kreuzen sich nur für einen kurzen oder längeren Zeitraum wie der von Marina und wtp – Marina ging in einer Phase, in der wir uns eh gerade umstrukturierten, den wtp-verlag ins kollektive Boot nahmen, um mit Rolands und unseren Ideen neben dem Filmemachen auch neue, literarische Inseln anzupaddeln.

Also haben wir ab Mai inmitten der Gestaltung von Rolands multimedialem Buch psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten (erschienen am 11.11.2022 im wtp-verlag) …

 

… und der Einarbeitung in die Welt des Verlagswesens noch Marinas wtp-Aufgaben wie Presse, Verleih, Vertrieb, die Gestaltung der Website und des Newsletters übernommen, nebenbei den Ofen gestrichen, im Haus renoviert, das Büro und ein kleines Studio eingerichtet, Rezepte beim Arzt abgeholt, mit Roland und Freunden zusammen auf der Terrasse den Moment genossen. War viel, aber es lief gut, denn Roland blühte im Sommer richtig auf, organisierte und plante die nächsten Projekte mit, strukturierte den Roman DIE SIEBEN ORTE, beteiligte sich lebhaft an allem. War ruhig und befriedet. Dass es ein letztes Aufbäumen war, ein letztes, intensives Erleben dieser Welt, diesen Gedanken habe ich erfolgreich verdrängt. Und so kam der Wumms umso gewaltiger, als Roland im September unser Boot für immer verließ, zumindest physisch … das war ein Riesen-Wumms, ein schlimmer Wumms, ein immer noch unfassbarer Wumms. Eine Ära künstlerischen Schaffens, exzessiven Lebens und der Rebellion ging zu Ende, der Startmotor und das größte Herz von wtp hörte auf zu schlagen. Doch wir – Antje, Patricia, Ute, Claire und ich – wir hatten es geschafft, unsere einzelnen, individuellen Herzen zu einem gemeinsamen großen kollektiven Herz zu verbinden, das kräftig weiterschlägt, so konnte Roland sich beruhigt und klammheimlich davonstehlen, wie das Alte Jahr dem Neuen weicht. In der Nacht. In Frieden. Roland, der Erschaffer von wtp ging, wir als die Erhaltenden des wtp-kollektives, bleiben. Und mit uns eine weltweite Anteilnahme von so vielen, die Roland berührt hatte, ein weltweites Teilen von Trauer, Geschichten und Erinnerungen. Das war dann auch sehr schön.

 

Warst eine Hure altes Jahr,

mal oben und mal unten

hast Glück gebracht,hast liebe Menschen mit genommen

und bist klammheimlich dann entkommen.

In deinem Rucksack nimmst du mit sehr viel,

was mir viel gewesen.

So ist das Leben, altes Jahr,

die Zeit verlanget ihre Spesen.

 

Im Oktober folgte der zweite große Wumms, der Hofer Wumms, ein toller, wunderbarer Wumms: die Hommage ROLAND REBER & wtp-kollektiv bei den diesjährigen Hofer Filmtagen. Wir feierten Roland und unsere gemeinsamen Filme mit Freunden, Zuschauern und Fans, mit viel Wumms, Tröten und dem Laternenlied. Einen schöneren und würdigeren Abschied von Roland, dem schöpferischen Lebens-Rebellen, gibt es nicht, er hatte eine so intensive Verbindung zu den Filmtagen und dem Filmtage-Team, dass er die Filme zeitlich so plante, dass die Einreichfrist für die Hofer Filmtage noch eingehalten werden konnte. Wir erzählten von unserer gemeinschaftlichen, kreativen Zeit und auch von unseren neuen Projekten.

Schmerz und Freude verschmolzen so während der Hofer Filmtage zu einem mir neuen, ungekannten Zustand. Ich konnte mich diesmal nicht ausruhen und zugucken, denn Roland stand für die Publikumsdiskussionen nicht mehr zur Verfügung. Bei dem Publikumsgespräch des ersten Filmes DAS ZIMMER war ich noch alleine, Antje war schon auf dem Weg in den nächsten Kinosaal, um die Vorstellung von 24/7 THE PASSION OF LIFE anzumoderieren, Ute, Claire und Patricia noch nicht angereist. Das war dann doch sehr einsam da vorne, ganz alleine vor der großen Leinwand. Bei der Vorführung von ENGEL MIT SCHMUTZIGEN FLÜGELN ging der Spaß dann los, denn nun war das wtp-kollektiv vollständig, ich konnte nun die ganze Kraft des wtp-Herzens spüren, es wurde leichter und flüssiger, manchmal auch albern, die Diskussionen immer lebhafter. Und wir konnten viele neue Menschen für uns, den Autor Roland Reber, die Filme und unsere Art und Weise, Filme zu machen, begeistern. Gemeinsam ist man halt nicht so einsam.

All diese Momente möchte ich festhalten, um sie noch einmal zu genießen und sie dann ziehen zu lassen, denn ich weiß, davon wird es noch viele geben. Es werden nicht die letzten Hofer Filmtage für das wtp-kollektiv sein.

Ich habe nicht auf dich geschossen,

hab nicht geschrien, Prosit Neujahr.

Ich hab dich heimlich mitgenommen,

mit allem, was so in dir war.

Doch halte noch einmal, gute Freundin,

lass mir noch einen Tag vom vergangenen Jahr.

Lass mir ihn und ich will es nicht verraten,

dass du einmal bestechlich warst.

Doch es gibt auch die anderen Momente, die gemeinsam-mit-Roland-Momente, die möchte ich nicht nur festhalten, ich möchte sie anhalten. So sitze ich nun immer noch an der Hörbuchfassung von Rolands Buch PSST … restauriere die Audiodateien, die eigentlich schon fertig sind, immer und immer wieder, kann unser letztes gemeinsames Projekt nicht abschließen. Denn ich weiß, wenn ich die Arbeit an dieser Hörbuchfassung beende, ist auch unser letztes gemeinsames Kapitel, das wir zu seinen Lebzeiten zusammen gelebt haben, zu Ende geschrieben. Das Alte Jahr, eine Ära, eine Zeit ist vorbei. Zeitenwende. Und so versuche ich, den Lauf der Zeit durch ständiges Auspinseln irgendwelcher Mini-Schmatzer, die kein Mensch hört, aufzuhalten. Doch auch mir wird dies nur in meinen Gedanken gelingen. Und ist das nicht genug?

Ein anderes Gedicht kommt mir in den Sinn, eigentlich könnte ich für jedes Gefühl, jede Stimmung und Empfindung, jede Situation einen Satz aus Rolands Buch zitieren, ich finde Bezüge überall im Leben.

Auszug aus dem Buch psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten von und mit Roland Reber

 

Freunde, hört mir zu: Ich geh’.

Und niemand kann mich halten.

Lasst mich einfach weiterziehn

in diesem Strom der Zeit,

ich treibe zu dem großen Meer

der Unendlichkeit.

Und fragt mich dort dann jener Richter,

der die Unterwelt bewacht:

»Willst Du wieder, willst Du wieder?«

Dann schüttle ich den Kopf ganz sacht

und sage ihm ganz ohne Groll,

»Warum? Kannst Du mir sagen, was dies alles soll?«

Und dann, dann treffe ich

Neckschmeck, meinen Freund, und all die andern.

Endlich Friede,

nie mehr wandern.

Für Roland ist die Wanderung dieses Jahr zu Ende gegangen. Für uns noch nicht. Und so wandern wir weiter durch kreative Gefilde, sei es literarisch oder filmisch oder beides gleichzeitig, Rolands Ideen mit in unserem Gepäck, ins neue Jahr 2023 zu der Veröffentlichung von 2 weiteren Büchern (DAS BUCH DES LÖWEN von Roland Reber – mit Illustrationen von Ute Meisenheimer – und NICHT NORMAL IST GANZ NORMAL von Antje Nikola Mönning), zur Leipziger Buchmesse mit Lesungen von PSST … und Antjes Buch, zum PC, um den Mystery-Roman DIE SIEBEN ORTE weiter zu schreiben, zur Kamera, um die multimedialen Inhalte zu den Büchern  und neue Spielfilme zu filmen und zu noch nicht erahnten Ereignissen, die uns auf unserer Wanderung begegnen werden.

In einem Interview sagte Roland einmal: „Und ich glaube, dass das Leben selbst ein großes Chaos ist, dem ein roter Faden zugrunde liegt. Aber, was ist die wirkliche Antwort? Ich weiß es nicht. Und wenn ich sie wüsste, würde ich keine Filme mehr machen.“ Vielleicht hat er die Antwort ja gefunden.

Und in diesem Doppel-Wumms-Zeitenwende-Gefühl wende ich meinen Blick vom Gestern mit Neugier auf das Morgen, frage mich, was es so alles enthalten wird, reiche die Audiodateien für das Hörbuch an Antje weiter, die sie in den digitalen Äther zur Veröffentlichung am 23.12.2022 schickt und gebe das Alte Jahr, das Geschehene frei. Am Tag der Wintersonnenwende. Ab morgen kommt das Licht wieder.

Verzeih, vielleicht hab ich mir angemessen

der Weltgeschichte steten Lauf

für eine halbe Stunde aufzuhalten.

Doch jetzt bist du frei, nun lauf.

Nun denn,

Adieu,

Altes Jahr.

Momentaufnahme am 11.08.2022

„Und ich glaube auch keine Figur zu sein, die später mal erwähnt wird. Nur ich möchte in meinem Leben den Eindruck haben, ich habe gelebt. Ich habe den Teil erfüllt, den ich erfüllen konnte. Ich glaube nicht, dass ich in diesem Leben noch erleben werde, dass die Revolution des Geistes stattfindet, dazu hat die Dummheit schon viel zu sehr gesiegt, aber es wird sie irgendwann geben. Und in dieser Gewissheit kann ich also beruhigt gehen dann.“ (Roland Reber, 1982, Auszug aus dem Hörbuch psst … Gedichte . Gedanken . Geschichten)

wtp-kollektiv vlnr: Ute Meisenheimer, Patricia Koch-Pritchard (via Smartphone), Antje Nikola Mönning, in Gedenken an Roland Reber, Mira Gittner, Claire Plaut

Euch allen Frohe Weihnachten und ein Gutes Neues Jahr 2023 wünscht das

 

wtp-kollektiv

 

Text: Mira Gittner (21.12.2022, 9 Uhr 33 Küche)

 

Hier könnt ihr das vollständige Gedicht, von Roland 1975 eingesprochen, anhören.

https://www.youtube.com/watch?v=nRlui9cggb0

Hier geht’s zum Buchtrailer

https://www.youtube.com/watch?v=_fnmhVLKb2s

Hier könnt ihr das Buch bestellen (oder überall im Buchhandel)

https://www.wtp-verlag.de/buecher/psst/