Szenenfoto aus 24/7 THE PASSION OF LIFE

 

EROS und RELIGION

Das religiöse Erleben der Erotik und deren archetypischen Strukturen in der modernen westlichen Gesellschaft.

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades, eingereicht an der Soziologischen Fakultät der Ludwig-Maximilian-Universität zu München bei Prof. Dr. Paul – von Magdalena Luzi, München 2004

Die moderne Gesellschaft in ihrer sexuellen Not.

„Nirgendwo wird das Glücksdefizit der modernen Zeit deutlicher als in der Unfähigkeit zum Fest, zur Leidenschaft, zum ekstatischen Leben.“ (Georges Bataille)

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Die Freiheit einer Gesellschaft lässt sich auch an ihrer Zensur messen. Oberflächlich gesehen leben wir also in der Bundesrepublik in einer freien Gesellschaft. Aber wie sieht es wirklich aus? Ja, es gibt keine Zensur in Bezug auf das Ausleben seiner privaten sexuellen Bedürfnisse, solange es im stillen Kämmerlein passiert. Homosexualität ist inzwischen gesellschaftsfähig geworden und bringt dem ein oder anderen Politiker auch noch Wählerstimmen. Aber was passiert, wenn ein Politiker öffentlich bekennen würde, dass er sich gerne den Arsch versohlen lässt oder, dass er ein Swinger ist, oder auf Fäkalien-Spiele steht? Man würde irgendwelche Vorwände erfinden, um ihn loszuwerden. Ist das Freiheit? Ist das eine freie Gesellschaft? Solange es nicht möglich ist, über Sexualität so zu reden und sie so leben zu können wie andere Grundbedürfnisse auch – wie z. B. Essensgewohnheiten, Kleidung etc – ist eine unbewusste Zensur vorhanden.
Wem aber nutzt diese Triebunterdrückung?
Den jeweiligen Institutionen, die die Sexualunterdrückung ins Leben gerufen haben. Und die brauchen gehorsame Bürger, keine denkenden (oder geilen). „Gesellschaftlich verursachte Sexualängste tragen zur Erhaltung von Abhängigkeiten der Individuen vom jeweiligen Kollektiv bei“, so der Moraltheologe Stephan Pfürtner. Da die Sexualität aber nicht ganz kastriert werden kann, wird sie oberflächlich freigegeben: eine Talkshow jagt die andere, die Comedians machen nur noch Witze unter der Gürtellinie – sie haben die Funktion, stellvertretend für den Bürger sexuellen Dampf abzulassen, damit dieser nicht auf die Idee kommt, es selber leben zu wollen.
Kirchenvater Theodoret sagte im 5. Jhd., dass „geschichtliche Tatsachen lehren, dass uns der Krieg größeren Nutzen bringt als der Frieden.“ In diesem Sinne ist eine Freigabe von brutalen Nachrichten in den Medien nützlicher als sexuelle Darstellungen und somit stellt sich mir die Frage: Was ist schlimmer? Ein zersägter oder ein nackter Körper?
Der Ursprung der Triebunterdrückung, der Lustfeindlichkeit liegt in der Frühgeschichte des Christentums. „Es ist abendländische Realität, wenn Strafcodices und Gerichtsurteile von dem mitbestimmt werden, was altorientalische Ziegenhirten vor ein paar tausend Jahren über Sexuelles dachten.“ (Karl-Heinz Deschner in DAS KREUZ MIT DER KIRCHE). Ich möchte dabei betonen, dass es mir nicht um das religiöse Erleben an sich, dem Glauben an eine Göttlichkeit bzw. Spiritualität an sich als Kritikpunkt geht – im Gegenteil, ich möchte mit meiner Arbeit die These unterstützen, dass Spiritualität für jeden von uns ohne das Dogma einer Institution möglich ist. Oder, um mit den Worten der italienischen Theologin Maria Caterina Jacobelli (1992) zu sprechen: dass „der Sexualakt etwas Sakrales“ ist, „das eine hervorragende Möglichkeit sein kann, etwas vom unendlichen Gott zu begreifen.“
Durch die Tabuisierung der Sexualität wird die Gefahr vermindert, dass der Mensch entdeckt, dass er durch sich und ohne Institution zu Gott, zur Ewigkeit, zum Ursprung finden kann. Die Kirche würde viele Steuerzahler dadurch verlieren und als „reumütige Sünder bedürfen die Menschen immer wieder einer Lossprechung und nur so bleiben sie in Abhängigkeit“ (Deschner). „Die Sexualfeindlichkeit der Kirche, die viel menschliches Leid und krankhafte Neurosen hervorgebracht hat, hat letztlich zu tun mit dem Machterhalt der Institution und zur Steuerung der Menschen“ (Pfürtner). Und darum geht es: Um Macht. Um Dominanz und Unterwerfung. Denn „die Kirche will Herr sein“ (Deschner). „Wieviel friedlicher hätte die Kirchen- und auch Menschheitsgeschichte verlaufen können, wäre die Lust an Dominanz und Unterwerfung nicht auf Schlachtfeldern oder Scheiterhaufen verklärt, sondern offen, ehrlich“ und transzendent gelebt worden. Viele Menschen leben ihren Sadomasochismus unbewusst im Alltag aus, unbewusst und lustlos, während der Arbeit, die sie nicht mögen, während der Ehe, die ein einziger Kampf ist. Würden sie ihre Sexualität definieren und leben, wären sie befriedet mit sich und somit auch gegenüber anderen.
Der religionswissenschaftliche Hintergrund der Verbindung von Eros und Religion, sowie die Entwicklung der Sexualität von etwas Heiligem bis zur Unterdrückung durch die kirchliche Sexualmoral zeigt sich am Beispiel der Tempelprostitution, wie sie in alten Kulturen vor der Entstehung der monotheistischen, patriarchalischen Religionen wie dem Judentum, Christentum und dem Islam, zelebriert wurde. Die Männer und Frauen, die in den Tempel kamen, um zur Grossen Göttin zu beten, sie zu ehren und durch den sexuellen Akt mit deren irdischen Repräsentanten – der Priesterin bzw. dem Priester – eine spirituelle Vereinigung mit der Grossen Göttin zu erfahren, empfanden in diesem Zusammenhang die Sexualität als heiligen Akt. Mit der Ausbreitung der monotheistischen Religionen und deren Institutionen, wie z. B. dem Christentum und der Kirche, wurde die sexuelle Kommunion allmählich unterdrückt, vom Heiligen zum Bösen degradiert.
Und woher kommt die Ablehnung gegenüber dem sexuellen Sadomasochismus, wo wir doch in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft leben, die den Sadomasochismus par excellence lebte und immer noch lebt? Wer maßt sich an, einen Fetischisten als „pervers“ zu bezeichnen, der einen leblosen Gegenstand, wie zum Beispiel einen Schuh, verehrt, in einer Gesellschaft, die auf den Grundlagen des größten Fetischs der Welt ruht: Jesus am Kreuz. Ein Mann, der sich der Willkür und dem Schmerz freiwillig ausliefert.
Anbetung, Gehorchen, Bestrafen (wie die Schreie aus den Folterkammern der Inquisition bezeugen), Eigentum sein (wie auch Papst Johannes Paul II. auf seinem Wappen „totus tuus M“ trägt, ich bin ganz dein, Maria), Kommunion – „die französische Salieserin Marguerite Marie Alacoque (1647-1690) … wischte einmal mit ihrer Zunge den Auswurf eines Patienten auf und beschreibt uns in ihrer Selbstbiographie das Glück, das sie empfand, als sie ihren Mund mit den Fäkalien eines Mannes gefüllt hatte, der an Durchfall litt“ (Deschner). Sie wurde 1864 heiliggesprochen, der Herz-Jesu-Orden, Herz-Jesu-Andacht und Herz-Jesu-Fest gehen auf die Offenbarungen dieser Nonne zurück.
Viele der christlichen Symbole sind archetypische Symbole, Urbilder der menschlichen Seele, die seit Anbeginn der Menschheit existieren und in jedem Menschen tief verankert sind. Diese Symbole reichen weit vor die Entstehung des Christentums zurück und wurden vom Christentum aus alten heidnischen Kulten übernommen. So wurde zum Beispiel Dionysos gekreuzigt. Lange vor der christlichen Zeit wurde er über einem Altartisch, auf dem Weingefäße standen, an einem Kreuze verehrt. Maria mit dem Jesus-Kind ist u. a. ein Abbild von der alt-ägyptischen Göttin Isis mit dem Horus-Kind etc. Maria als Archetypus des Weiblichen. Übernommen wurde sie aus den Kulten der Isis, Inanna, Ishtar, Astarte etc. (Kulte, die auch den sexuellen Aspekt der religiösen Verehrung beinhalteten) und von der Kirche wurde sie dann in den Konzilen von Konstantinopel 381 und Ephesus 431 zur biologischen Jungfrau und Gottesmutter domestiziert. In seiner archetypischen Bedeutung aber ist jungfräulich nicht biologisch gemeint, sondern als eine seelisch-geistige und somit politische Haltung. Jungfräulich rein von Ideologien, Vorurteilen und Dogmen. In der Religionsgeschichte ist die Jungfrau ein Titel der Magna Mater, der Grossen Göttin, ein Symbol des Lebens, das Symbol des weiblichen Teils der originalen schöpferischen Kraft, die zur Befreiung von religiösen, sozialen, politischen Dogmen ruft. Jungfräulich im Sinne von „du selbst“, unberührt von äußeren Einflüssen und Normen. Und da das Weibliche ein wesentliches Element in der Struktur des Menschen – sowohl in der Frau als auch im Mann – ist, geht es hier um den Mensch in seiner Gesamtheit.
Bewusst gelebte Erotik ist mehr als das dumpfe Abarbeiten von diversen Stellungen, es kommt nicht auf die Technik, sondern auf die Essenz an. Es ist ein Versuch, sich Selbst zu begegnen, das bewusste Alltags-Ich abzuschalten, es durch Hingabe gar aufzulösen, sich zu vergessen, sich zu verlieren, um einen winzigen Augenblick in die Unendlichkeit des Seins einzutauchen, zurück zum Ursprung – und dies ist ein spiritueller bzw. religiöser Vorgang.
Die Vernunft weicht den verborgenen Sehnsüchten und Verdrängungen, die Emotion kommt zum Vorschein. Es ist der Versuch, sich in all seinen Gegensätzlichkeiten wiederzuvereinen, die Trennung von Rationalem/Verstand und Irrationalem/Gefühl zu überwinden und die Transzendenz des Ichs zu erreichen. Es geht um das Erleben der Gleichzeitigkeit von Existenz und Nicht-Existenz, von Verlust und gleichzeitiger Erfahrung der ureigensten persönlichen Identität.
Anstelle einen Gott zu zeichnen, der den Menschen Eigenverantwortung, Identitätsfindung und vor allem ein lustvolles Erfahren des Lebens vermittelt, stellt die Kirche ihn als moralisches Über-Ich, als allgegenwärtigen Sittenpolizisten dar. Wäre es so schlimm, Gott attraktiv darzustellen? Für Jesus wäre es vielleicht besser, alle glaubten, ihn hätte es nie gegeben, als dass sie annehmen müssen, er sei so, wie die Kirche ihn schuf. Und wenn es Jesus und Gott gar nicht gibt, was ist dann eine Sünde wert?

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Venus – oder die Verteufelung der Sexualität

Was wissen wir Menschen schon von dem „Bösen“? Was für die Einen gut ist, ist für die Anderen böse, also gibt es weder das Gute an sich, so wenig wie es das Böse an sich gibt.
Nehmen wir einmal den Himmelskörper Venus. Venus war für die Völker der Antike die Göttin der Liebe und der Sexualität und somit der Fruchtbarkeit. Sie wurde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als Inanna, Ishtar, Isis, Aphrodite, Astarte, Demeter verehrt. Das Christentum hat später viele Elemente, allerdings verstümmelt, in den Marienkult übernommen. Venus, das Symbol aller sinnlichen Lust, war für die alten Völker etwas Gutes. Die Venus als Himmelsstern erscheint entweder am Abend kurz nach Sonnenuntergang als Abendstern, lateinisch Vesper – daher leitet sich auch die Abendlitanei in der Kirche ab -, oder kurz vor Sonnenaufgang als Morgenstern, der die Sonne ankündigt als Lichtbringer, lateinisch Lucifer. Die Kirche, die die Sexualität verteufelt hat, übernahm den lateinischen Namen Lucifer für das Böse, die Sexualität, ihren erschaffenen Teufel.
Auch die Symbolik des kirchlichen Teufels ist interessant. Demeter oder auch Freya, die germanische Fruchtbarkeitsgöttin, wurden zusammen mit dem Schwein als Symbol der Fruchtbarkeit gezeigt – einem Tier, das in der heutigen Zeit zu einem Symbol von Dreck verkommen ist. Sexualität ist also dreckig, schmutzig. Noch deutlicher wird es bei der Symbolik der Aphrodite. Sie wurde gerne mit einem Bock gezeigt. Der Bock, der Sündenbock, der Teufel mit Bockshörnern oder Bockshuf oder auch ganz einfach nur als Bock dargestellt. Also wieder die Verteufelung der Sexualität. Sexualität als Teuflisches, Böses.
Was will uns die Kirche damit sagen?
Wenn man bedenkt, dass wir alle von unserer anderen Hälfte gespalten geboren werden (siehe sacrum sexuale), die wörtliche Bedeutung von diabolos „Spalter“ ist, ist die Geburt in diese Welt, also die Welt des diabolos, der Teufel, der uns abgespalten hat. Und ist nicht der einfachste Weg zurück zum Ursprung, zum Nicht-Gespaltensein, zum Nicht-Diabolischen, der Sexualakt, die Lust, die uns die Erkenntnis, Erleuchtung, das Licht bringt? Der Weg vom diabolischen Zustand des Gespaltenseins zurück zum Ursprung geht über die lichtbringende, „luciferische“ Göttin Sexualität.
Will uns die Kirche damit sagen, dass sie keine Erlösung im Diesseits wünscht? Denn sie hat durch die Verteufelung der Sexualität den diesseitigen Weg zum Sein in den Schmutz gezogen, vom Heiligen zum Bösen degradiert.
Oder sind Gott und sein Teufel nur die permanente Ausrede für unsere Unfähigkeit zu leben?

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Sacrum Sexuale – Geilsein als die Idee von Heilsein

 „Männlich und Weiblich sind am Rücken miteinander verbunden. Der Göttervater trennte die beiden Hälften und so suchen sich diese getrennten Hälften, Mann und Frau, in tiefer Sehnsucht, und sie drücken diese Sehnsucht am intensivsten in der sexuellen Vereinigung aus. „ (Plato, Symposium)

Die Verbindung von Eros und Religion liegt in der Suche nach tiefen Gefühlen und der Möglichkeit des Ankommens.

Im Embryonalzustand der ersten 40 Tage ist jeder Mensch ein androgynes Wesen, trägt sowohl Weibliches als auch Männliches in sich. Erst dann entwickelt sich die jeweilige Geschlechtlichkeit. So werden wir, gespalten von unserer anderen Hälfte, un-eins geboren und suchen unser Leben lang diese andere Hälfte, um uns wieder mit ihr zu vereinen, um wieder ganz zu werden, zu einem ganzen Menschenbild, um eins zu sein, um heil zu sein.

Der Garten Eden liegt in uns und nur in uns können wir ihn betreten. Aber wie?

Unbewusst wird jeder Mensch von dieser Sehnsucht getrieben. Dass der moderne Mensch diese Sehnsucht und vor allem auch sich selbst nicht richtig definieren kann, wird ihm diese Einheit in sich, die er in der Erotik erleben könnte, nicht gelingen und der Sexualakt verkommt zu einem Stellungswechselsport oder zur reinen Zeugung von Nachfahren – was nur eine andere Form von Unsterblichkeit ist, sich selbst in seinen Kindern zu verewigen. Im Tod allerdings erfährt jeder Mensch diese Vereinigung mit sich und der Tiefe des Seins, allerdings unwiderruflich.

Dennoch ist es uns möglich, einen „kleinen Tod“ bewusst zu erleben und dieses Gefühl in uns zu wahren – durch das bewusste Erleben der Lust innerhalb der Erotik, durch die Hingabe, die Selbstopferung, das heißt die Selbstaufgabe während des Sexualakts, durch Geilsein als die Idee von Heilsein. „Erotik ist die Bejahung des Lebens bis in den Tod hinein. Der Tod bringt das Sein an den Tag.“ (Georges Bataille)

Die Auflösung des endlichen Ichs, um zum endlosen Urzustand zurückzukehren, ist der Weg. Es ist diese todesähnliche Verschmelzung für wenige Sekunden, eine Verschmelzung mit dem Sein, der Ewigkeit, der Tiefe, die man nur erfahren und nicht in Worte fassen kann, die uns vergessen lässt, dass wir abgegrenzte, voneinander getrennte Wesen sind. Es ist eine Rückkehr in den embryonalen Zustand der Einheit mit sich.

Durch die Erotik kann der Mensch die eigene Individualität in der Totalität einer unanschaulichen Ganzheit verlieren. Es ist der Unterschied zwischen einem Bewusßtsein des Ichs (=Ich) und dem Erleben, Spüren, Erfahren, Gefühl von sich (=Sein) und allem. Auf dem Höhepunkt der Lust verlischt das Individuum. Es müsste somit eigentlich beim Orgasmus heißen, „ich komme“, sondern „ich bin angekommen“. Angekommen bei mir, angekommen im Sein.